Der Tüttensee – bisher größter Krater im Streufeld

Seit der ursprünglichen Veröffentlichung auf dieser Webseite sind neue Erkenntnisse hinzugekommen:

— Viele der neuen Ergebnisse von den Untersuchungen am Tüttensee-Krater sind in diesem längeren Artikel zusammengefasst:

http://elib.sfu-kras.ru/bitstream/2311/1631/1/04_.pdf 

— Die Bezeichnung „größter Krater“ im Chiemgauer Meteoritenkrater-Streufeld mag mittlerweile nicht mehr zutreffen, nachdem ein etwa 900 m x 500 m großer Doppelkrater mit Ringwall am Boden des Chiemsees mit SONAR-Echolotmessungen nachgewiesen wurde (siehe hier).

— Mittlerweile mehr als 60 bis zu 3 m tiefe Schürfe um den Tüttensee herum haben eindrucksvolle Einblicke in die Lage aus Impakt-Auswurfmassen (Ejekta) verschafft. Sie stellt überwiegend eine bis zu 1 m mächtige polymikte Brekzie dar, die große Mengen von zertrümmerten alpinen Geröllen enthält und die reich an organischem Material (zersplittertes Holz, Holzkohle, zerbrochene Zähne und Knochen, (?) menschliche Haarbüschel) ist. Moderate bis starke Schockeffekte in einer großen Anzahl der Brekzien-Komponenten unterstreichen den Impaktursprung des Tüttensee-Kraters. In die Brekzie eingemischte Steinartefakte und Keramik-Scherben ermöglichen es, den Impakt in die Bronzeit oder jünger zu datieren, was ebenfalls nicht mit der Eiszeit-Entstehung des Tüttensee-Krater als Toteisloch – Meinung der lokalen und regionalen Geologen – in Einklang zu bringen ist.

— Messungen der Gravimetrie und der Seismik auf dem Tüttensee (siehe den Geophysik-Beitrag: https://www.chiemgau-impakt.de/einfuehrung/geophysik) und neue topographische Betrachtungen zeigen, dass die Impaktstruktur einen Wallkronen-Durchmesser von 600 m besitzt, während der eigentliche Kraterdurchmesser deutlich kleiner (etwa 300 m) und so in dem 400 m messenden Tüttensee „versteckt“ ist. Der größere Walldurchmesser lässt sich leicht mit dem sehr weichen, wassergesättigten Untergrundmaterial beim Einschlag erklären, das in der Exkavationsphase mit den Auswurfbewegungen einen absolut instabilen Ringwall bildete. In der anschließenden Modifikationssphase der Kraterbildung rutschte der kraternahe Großteil dieser losen Massen des Übergangswalls zurück und füllte dabei einen Teil des Übergangskraters wieder auf (siehe die Bildfolge unten).

Kraterbildung durch Auswurf beim Impakt

Bildung des Tüttensee-Meteoritenkraters (stark vereinfacht) und der Ort der LfU-Bohrkernentnahme für die Radiokarbon-Datierung. Abbildung erstmalig publiziert in Antiquity 85, 2011, p. 279 (http://antiquity.ac.uk/ant/085/ant0850278.htm).

Dieses Model der Kraterbildung ist gut verträglich mit den seismischen Messungen, die zeigen, dass der Seeboden sich absolut von dem unterscheidet, was für einen “klassischen” See im postglazialen Alpenvorland zu erwarten ist, was einmal mehr die von lokalen und regionalen Geologen weiterhin proklamierte Toteisgenese der Tüttensee-Hohlform verwirft. Die seismischen Messungen belegen ebenfalls unübersehbar in den Seismogrammen, dass der von Geologen des LfU für Radiokarbon-Datierungen entnommene Bohrkern nichts anderes als eine ganz normale stratigraphische Abfolge deutlich außerhalb des eigentlichen Kraters enthält, was genau dort zu erwarten war. Die vom LfU in der Presse  und dann in einem Artikel großsprecherisch verkündete Botschaft, dass der Chiemgau-Impakt “erledigt” sei, war damit allerdings völlig substanzlos und demonstrierte, dass am LfU der Sachverstand für Impaktprozesse und Impaktgeologie nicht vorhanden ist. Das kann hier auf der Webseite unter dem Menüpunkt Diskussion in allen Einzelheiten nachgelesen werden.

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Der Tüttensee – bisher größter Krater im Streufeld (ursprünglicher Beitrag)

Einführung

Der Tüttensee (Abb. 1, 2) mit etwa 400 m Durchmesser gilt im Rahmen des Chiemgau-Impaktes als der bisher größte der Einschlagkrater. Er liegt nahe der Ortschaft Grabenstätt am Chiemsee. Seine Position am südwestlichen Ende des Kraterstreufeldes zusammen mit anderen größeren Kratern spiegelt die theoretische Verteilung von Meteoritenkratern in einer Streuellipse – pauschal zunehmend größere Krater in Einflugrichtung – wider, so wie es in anderen Meteoritenkrater-Streufeldern auf der Erde verwirklicht ist.

Abb. 1. Der Tüttensee in der topographischen Karte und im Satellitenbild (DSat2).

Abb. 2. Der Tüttensee im Luftbild. Foto: Gerhard Benske.

Nach amtlichen Angaben ist der See im Mittel knapp 10 m und maximal 17 m tief. Dem steht eine unbestätigte Zahl von 70 m Tiefe gegenüber, die angeblich Taucher punktuell bei einer Lotung ermittelt haben sollen. Mit einer geophysikalischen Messung (Gravimetrie) wurde versucht, eine bessere Annäherung an die wirkliche Tiefe zu erhalten, was nur sehr bedingt gelang. Danach scheint die amtliche Tiefe zu gering und die gelotete Tiefe von 70 m weitaus zu groß zu sein. Werte um 20 – 30 m erscheinen plausibel, wobei der Unterschied zur amtlichen Tiefe mit einer mächtigen Schicht aus verfestigtem organischem Material über dem Seeboden erklärt werden kann.

Umgeben ist der Tüttensee von einem ausgeprägten, unvermittelt aus der Chiemsee-Verlandungsebene aufragenden Ringwall mit einer Höhe von etwa 8 m (Abb. 3, 4, 5). Dieser auffallende Ringwall war ein erster Hinweis, den Tüttensee als möglichen Meteoritenkrater näher zu untersuchen.

Abb. 3. Der Tüttensee-Ringwall von außen (Blick von Süden).

Abb. 4. Der Tüttensee-Ringwall im (künstlichen) Anschnitt.

Abb. 5. Der Tüttensee-Ringwall von innen. Aufgenommen während einer Geophysik-Meßkampagne auf dem Eis.

Vor der Entdeckung des Impakt-Phänomens wurde der Tüttensee ohne bekannt gewordene weitere geologische Untersuchungen allgemein als ein Relikt aus der Eiszeit, als eine wassergefüllte Toteiswanne angesehen. Diese Deutung wird auch nach wie vor von Geologen aus der Region und von Mitarbeitern des Bayerischen Landesamtes für Umwelt, geologisches Landesamt, vertreten und heftig verteidigt (Doppler & Geiß 2005). Die Verteidigung der Toteis-Genese basiert auf einer Geländebegehung dieser beiden Autoren sowie auf dem Verweis auf ein topographisches Geländemodell. Diese Ansicht wird weiter aufrecht erhalten, trotz der von den Impaktbefürwortern vorgelegten klaren Impaktbefunde. Die Reaktion der Toteis-Befürworter ist die typische Reaktion, die in der Historie der Impaktforschung seit 100 Jahren zu beobachten ist, wenn ein neuer Meteoritenkrater, eine neue Impaktstruktur „auf den Plan tritt“: Die neue Entdeckung paßt nicht in die bisherigen Modellvorstellungen der regionalen Geologie. Indirekt ist verständlicherweise der Vorwurf impliziert, daß die bisherigen regionalgeologischen Untersuchungen den Impakt nicht erkannt haben. Ausführlicher wird diese Konstellation und Konfrontation in dem Artikel CIRT (2005) erörtert, in dem kritisch zu der Arbeit Doppler & Geiß (2005) Stellung genommen wird.

Hier stellen wir im Rahmen dieser Diskussion die beiden Modelle vor, insbesondere die neuen Untersuchungsergebnisse, die sehr stark für eine Impaktgenese des Tüttensees sprechen. Für eine Vertiefung in die Materie wird auf die anklickbaren ausführlicheren Texte verwiesen.


Toteismoränen – Toteiswannen – Toteislöcher

sind aus allen Vereisungsgebieten der Erde bekannt (Abb. 6, 7, 8, 9). Bei Stillstand und Rückzug von Gletschern können sich Eiskörper ablösen (Abb. 10 A) – sie sind “totes Eis“. Werden diese isolierten Toteiskörper mit von Flüssen herantransportiertem Gletscherschutt zugedeckt und gegen Wärme und Sonneneinstrahlung abgeschirmt, können sie über lange Zeiträume im Untergrund erhalten bleiben (Abb. 10 B). Beim endgültigen Zusammenschmelzen sackt der Gletscherschutt nach, und es bilden sich Wannen – die Toteislöcher (Abb. 10 C). Seen können sich dann in den Toteiswannen bilden, wenn diese ins Grundwasser hinabreichen oder am Boden mit abdichtenden Schichten ausgekleidet sind.

In manchen Fällen können Toteiswannen von Hügeln ringartig umgeben sein. Man erklärt solche Formen durch unterschiedliches Schmelzen im Zentrum und am Rande des zugedeckten Toteiskörpers.

Quelle:Wikipedia

Abb. 6. Toteiswannen in Lappland/Schweden.

Quelle: http://www.hi.is/~oi/glacial_geology_photos.htm

Abb.7. Toteiswannen auf Island.

Quelle: North Dakota Geological Survey

Abb. 8. Toteiswannen in North Dakota (USA).

Quelle: North Dakota Geological Survey

Abb. 9. Einzelne Toteiswanne in North Dakota (USA).

Abb.10. Die Phasen der Entstehung von Toteislöchern. Beim Stillstand und Rückzug von Gletschern können sich Eiskörper ablösen (A) – sie sind “totes Eis“. Werden diese isolierten Toteiskörper mit von Flüssen herantransportiertem Gletscherschutt zugedeckt und gegen Wärme und Sonneneinstrahlung abgeschirmt, können sie über lange Zeiträume im Untergrund erhalten bleiben (B). Beim endgültigen Zusammenschmelzen sackt der Gletscherschutt nach, und es bilden sich Wannen – die Toteislöcher (C).


Meteoritenkrater – Impaktstrukturen

Die Bildung von Meteoritenkratern bei einem Impakt wird heute weitgehend verstanden (Abb. 7).

Abb. 11. Die Phasen der Entstehung eines einfachen, schüsselförmigen Meteoritenkraters. Beim Auftreffen eines kosmischen Projektils laufen Schockwellen extremer Energie in den Untergrund (A). Sie initiieren Verdampfen, Schmelzen und Zertrümmern des Gesteinsmaterials sowie die Aushöhlung des Kraters und den Auswurf (B). Nach der Druckentlastung verbleibt ein Krater mit einer Bodenbedeckung und einem Wall aus mehr oder weniger beanspruchten Gesteinen (C). Ausführlicher im Text.

Ein Projektil (Impaktor), das ab einer Größe von etwa 10-20 m die Erdatmosphäre praktisch mit kosmischer Geschwindigkeit ungebremst durchschlägt, erzeugt beim Aufprall extrem starke Drücke, die sich in Form von Schockwellen in den Untergrund, aber auch in das Projektil ausbreiten (A). Verknüpft mit den Schockdrücken sind extrem hohe Temperaturen, die ausreichen, um das meteoritische Projektil beim Eindringen in die Erde in einer gewaltigen Explosion zu verdampfen. Verdampft und zusätzlich geschmolzen wird auch ein Teil des betroffenen Untergrundgesteins. Dieses Volumen wird durch die Ausbreitung der Schockwellen rasch zu einem Krater vergrößert. Unter hohem Druck wird dabei Gesteinsmaterial gegen Wände und Boden dieses Kraters gepreßt (B), zunehmend deformiert und zerbrochen und teilweise aus dem Krater als Auswurfmassen hinausgeschleudert (B), wodurch sich am Kraterrand ein Ringwall bildet, um den noch ein Schleier aus Auswurfmassen angeordnet ist (C). Nachdem die Kompression der Schockwellen-Bewegung nachgelassen hat, kommt es am Kraterboden durch die Druckentlastung zu gegenläufigen Bewegungen, die den Krater wieder flacher machen und an seinem Boden zertrümmertes Gestein hinterlassen (C). Eine solche schüsselförmige Struktur nennt man in der Impaktforschung einen einfachen Krater.

Übersteigt der Durchmesser eines Krater einige Kilometer, so kommt es in der Spätphase des Einschlags zu einem zusätzlichen Kollaps der riesigen Hohlform mit der Folge, daß durch den Massenschub ins Innere Zentralberge und Ringe entstehen können. Ein solcher, sogenannter komplexer Krater ist die 25 km messende Ries-Impaktstruktur (Nördlinger Ries) in Bayern.

Bei dem beschriebenen Impaktprozeß eines Großmeteoriteneinschlages sind die Schockwellen das besonders hervorstechende Merkmal. Sie steuern die Bewegungen der Gesteinsmassen bei der Kratervergrößerung, und sie hinterlassen charakteristische Merkmale in Mineralen und Gesteinen, die man von anderen geologischen Prozessen nicht kennt.


Der Tüttensee – ein eiszeitliches Toteisloch oder ein Meteoritenkrater?

Was spricht für ein Toteisloch? Der Tüttensee liegt in einer eiszeitlich geprägten Landschaft, in der Toteiswannen mit und ohne Wasser zum normalen Erscheinungsbild gehören.

Was spricht für einen Meteoritenkrater? Der Tüttensee besitzt einen gleichmäßig ausgeformten Ringwall. Die runde, aber nicht kreisförmige Umrandung kann durch den Einschlag eines zuvor auseinandergebrochenen Projektils erklärt werden. Stark unregelmäßige Krater gibt es auch in den Kraterstreufeldern von Henbury und Kalijaarvi. Der regelmäßig geformte Ringwall ist viel eher mit einer zentralen Einschlagexplosion als mit dem unregelmäßigen Abschmelzen eines Toteiskörpers zu vereinbaren. Trotzdem verweisen Doppler und Geiß (2005) auf die Morphologie als beweiskräftig für eine Toteisgenese, wobei anzumerken ist, daß morphologische Gegebenheiten ohnehin ganz am Ende der Kriterien „Impakt oder nicht Impakt“ stehen.

Auch geologische Ablagerungsformen, von Doppler und Geiß (2005) nach einer Begehung des Geländes um den Tüttensee und aufgrund von Einblicken in eine Kiesgrube zitiert, sind wenig aussagekräftig. Es muß immer wieder betont werden, daß bei einem Impakt geologische Prozesse ablaufen (Sedimentation, Erosion Faltung, Bruchtektonik), die dem Geologen sonst aus der „normalen“ Geologie vertraut sind – nur daß beim Impakt diese Vorgänge, und auch eine Abfolge dieser Vorgänge, in unerhört kurzer Zeit ablaufen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb viele Geologen grundsätzliche Schwierigkeiten mit dem Verständnis von Impaktvorgängen haben.

Beim Tüttensee kommt hinzu, daß eine sehr komplexe Struktur das Resultat des Einschlages eines mehrfach zerbrochenen und möglicherweise zuvor explodierten Projektils sein kann, wobei die Eigenart eines Kometeneinschlages eine besondere Rolle gespielt haben könnte. Morphologische und sedimentäre Verhältnisse um den Tüttensee erhielten vermutlich ein besonderes Gepräge durch den Einschlag in das Flachwasser des damals größeren Chiemsee sowie durch vermutete weitere Einschläge ins Wasser mit den enormen Auswirkungen starker Flutwellen – nachdem sich ein primärer Tüttenseekrater gebildet hatte. Mit der Annahme zusätzlicher ausgedehnter Gesteinsverflüssigungen und Kompaktionen in den quartären Sedimenten (siehe weiter unten: Geophysik ) sind weitere komplexe Konstellationen in der Tüttensee-Geologie zu erwarten, die man nicht allein mit der Anlage eines kleinen Schurfes (wie vom Geologischen Landesamt vorgeschlagen) erfassen kann.

Zwingend für die Ansprache des Tüttenseekraters als eine Impaktstruktur sind allein die Befunde zu außergewöhnlichen Hochdruck-Kurzzeit-Deformationen der Gesteine sowie der Nachweis von Schockeffekten in Mineralen, die nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft kennzeichnend für einen Impakt sind. Weniger zwingend, aber das Impakt-Modell stützend sind die geophysikalischen Messungen und der Nachweis eines Impakthorizontes in der Nähe des Tüttensees.

Fig.12

 Abb. 12. Aus dem Ringwall des Tüttensees. Wie „überleben“ solche scharfkantig gebrochenen Komponenten einen Transport in einem reißenden Fluß – im Fall, daß die Anlage des Tüttensee-Ringwalls beim Zudecken des Toteises erfolgte?

Abb. 13. Deformiertes Geröll aus dem Tüttensee-Ringwall. Man beachte die rotierten Brüche und die Kohärenz von Komponente und aufgebogenen scharfkantigen Fragmenten (Pfeile).


Makroskopische Gesteinsdeformationen

Eine große Zahl von Geröllen, die in Schürfen aus dem Ringwall des Tüttensees geborgen wurden, weisen Deformationen auf (Abb. 12, 13), die einen Transport in einem – wegen der Größe der Komponenten – reißenden Fluß über mehr als 50 m nicht überlebt hätten, ohne auseinanderzufallen. Insbesondere bei ursprünglich scharfkantig zugerichteten Kalksteinkomponenten wäre auch eine transportbedingte Zurundung zu erwarten. Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, daß das Material des Tüttenseeringwalles fluviatil zur Abdeckung eines Toteiskörpers im Untergrund des heutigen Tüttensees herantransportiert worden sein soll. Bezeichnend ist, daß derart deformierte Komponenten in den nächstgelegenen Kiesgruben nicht beobachtet werden.

Tatsächlich sind die beobachteten Deformationen charakteristisch für eine Hochdruck-/Kurzeit-Beanspruchung bzw. für dynamisch wirkende Schockimpulse.

Abb. 14. Scharfkantig zerbrochene Komponente aus dem Ringwall des Tüttensees spricht gegen Flußtransport und gegen eine Toteisanlage des Ringwalles. Die rotbraunen Farben könnten ein Indiz für eine Einwirkung hoher Temperaturen („Frittung“) sein.

Ausführlicher wird auf diese Prozesse im Menüpunkt Makroskopische Deformationen eingegangen. Hier führen wir kurzgefaßt die beiden wichtigsten Vorgänge an:

— Hochdruck-/Kurzzeitdeformationen

— Spallation

Kennzeichnend für eine Hochdruck-/Kurzeitdeformation sind plastische Verformungen und komplexe Sprödbrüche in Komponenten, die in einer unverfestigten Matrix eingebettet sind. Ein sehr hoher Umschließungsdruck ist neben einem überlagerten differentiellen Druck erforderlich, damit in der weichen Matrix überhaupt eine ausreichende Energieübertragung möglich ist und damit trotz der Zerpressungen und Scherungen/Torsionen die Komponenten kohärent zusammenhängend bleiben. Und eine sehr kurzzeitige Beanspruchung ist zwingend, da bei langanhaltender langsamer Deformation die Komponenten in der weichen Matrix dem Druck einfach ausweichen oder letztlich doch vollständig zerschert würden. Beim Impakt sind hohe Umschließungsdrücke bei der Krateraushöhlung (Exkavation), beim Transport der Massen nach außen und bei der Ablagerung der Ejekta gegeben. Es versteht sich, daß es sich bei einem solchen Impaktgeschehen um einen Kurzzeitvorgang handelt.

Spallation (= Abplatzen, Zerplatzen; nicht zu verwechseln mit der Neutronenspallation) ist ein Vorgang, der durch kompressive Schockimpulse ausgelöst wird. Solche Schockimpulse werden an freien Oberflächen oder an Materialgrenzen reflektiert, was zu sehr starken Zugimpulsen führen kann. Da die Zugfestigkeit von Materialien stets deutlich kleiner ist als die Druckfestigkeit, ist die zerstörende Wirkung der reflektierten Zugwellen in aller Regel viel größer als die der primären Druckwellen. In der Schockphysik und in der technischen Bruchmechanik, vor allem im Militärwesen, ist die Spallation deshalb ein wichtiger Prozeß und ein wichtiges Forschungsgebiet. Eine bedeutsame Rolle spielt die Spallation auch bei Impaktprozessen, weil auch hier die zerstörende Wirkung der als Zugwellen reflektierten Schockwellen besonders wirksam wird. Das kann das Aufbrechen riesiger Gesteinskomplexe betreffen aber auch bis in den mikroskopischen Bereich hinein beobachtet werden.

Im Fall des Chiemgau-Impaktes spielt die Spallation deshalb eine wichtige und auch auffallende Rolle, weil die besondere Art der Moränen- und Schotterablagerungen eine Schockspallation begünstigt. Bei den Komponenten der quartären Ablagerungen handelt es sich vorwiegend um harte, dichte Gerölle in einer unverfestigten Matrix. Beim Durchlaufen einer Schockwelle durch die Gerölle sind dann die reflektierten Zugwellen besonders stark, die die Gerölle förmlich auseinanderreißen können (siehe die Ausführungen und Abbildungen HIER). Der Effekt kann energetisch dadurch noch verstärkt werden, daß in den kugeligen Geröllen die Schockwellen (wie Lichtwellen durch eine Linse oder einen Hohlspiegel) fokussiert werden. Eine andere Möglichkeit, offene Zugrisse in Geröllen in einer weichen Matrix zu produzieren, ist schwer vorstellbar.


Mikroskopische Deformationen (Schockeffekte, Schockmetamorphose)

Schockeffekte in Mineralen werden bei der Ausbreitung von Schockwellen in Gesteinen erzeugt. Eine Schockwelle (oder Stoßwelle) ist eine Deformation, die sich wellenartig in einem Medium mit einer Geschwindigkeit ausbreitet, die höher ist als die Schallgeschwindigkeit (seismische Geschwindigkeit). Den Überschallknall von Flugzeugen erzeugen Schockwellen in dem Moment, in dem das Flugzeug schneller als der Luftschall fliegt.

Schockwellen in Mineralen hinterlassen je nach der Intensität unterschiedliche Spuren. Zu den wichtigsten gehören sogenannte planare Deformationsstrukturen (englisch: planar deformation features, PDFs), Abb. 15 A, zeigt eine Dünnschliffaufnahme mit solchen planaren Deformationsstrukturen in Quarz. Unter dem Mikroskop erkennt man mindestens fünf Scharen mit unterschiedlicher Orientierung. Bei diesen besonderen Strukturen handelt es sich um extrem engständige, parallele und optisch isotrope Lamellen, die nach kristallographischen Ebenen im Quarz ausgerichtet sind. Nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse (z.B. Stöffler & Langenhorst 1994) bilden sich multiple Scharen dieser engständigen isotropen Lamellen nur bei extremen Schockdrücken, und ihr natürliches Auftreten in Gesteinen wird generell als ein Beleg für einen Impakt angesehen. PDFs wurden in Dünnschliffen mehrerer Proben vom Tüttensee nachgewiesen.

Einen anderen Schockeffekt, allerdings geringerer Intensität, vermittelt Abb. 15 B, in Form von ebenen Brüchen nach kristallographischen Flächen in Quarz (englisch: planar fractures, PFs). Normalerweise zeigt Quarz keine solche Spaltbarkeit, und nur in ganz seltenen Fällen, bei extrem hohen tektonischen Drücken mag sie sich in den stärksten Stadien einer Regionalmetamorphose bilden. Spaltbarkeit bei Schock ist jedoch regelmäßig in Quarzen von Impaktstrukturen zu finden.

Die mikroskopischen Schockdeformationen in Gesteinen des Ringwalles vom Tüttenseekrater sprechen – neben den Hochdruck-/Kurzzeitdeformationen – deutlich für die Annahme einer meteoritischen Entstehung des Tüttensees, während die petrographischen Beobachtungen mit einem Toteiskessel nur schwerlich, wenn überhaupt in Einklang zu bringen sind.

PDFs Schockeffekt Tüttensee-Krater

 Abb. 15. A. Schockeffekte in Gesteinen des Tüttensee-Ringwalles. Dünnschliffaufnahmen, gekreuzte Polarisatoren; Breite der Aufnahme ca. 500 µm. Fünf Scharen planarer Deformationslamellen (PDFs) in Quarz. Auf dem Photo sind nicht alle Scharen zu erkennen; sie werden aber bei Rotation des Dünnschliffs sichtbar. 

PFs Schockeffekt Tüttensee-Krater

 Abb. 15. B. Schockeffekte in Gesteinen des Tüttensee-Ringwalles. Dünnschliffaufnahmen, gekreuzte Polarisatoren; Breite der Aufnahme ca. 500 µm.  Scharen planarer Brüche (PFs; Spaltbarkeit) in Quarz.


Geophysik am Tüttensee

Geophysikalische Messungen wurden ursprünglich mit dem Ziel durchgeführt, genauere Daten über Tiefe und Form der Tüttensee-Struktur zu erhalten. In einem ausführlichen gesonderten Artikel werden diese Gravimetrie-Kampagne und ihre Ergebnisse beschrieben. Während die genaue Tiefe weiterhin unbestimmt bleibt, haben die Messungen im Umfeld des Tüttensees ein überraschendes Resultat insofern erbracht, als eine ringförmige Verdichtung im Untergrund festgestellt wurde (Abb. 16). Grundsätzlich zeigen Impaktstrukturen dort eine Verringerung der Dichten als Folge der Gesteinszerstörungen. Eine Erklärung für die Verdichtung um den Tüttensee herum liefern Beobachtungen bei sehr schweren Erdbeben, bei denen es durch den Bebenschock in porösen, unverfestigten wasserreichen Gesteinen zu einer Gesteinsverflüssigung mit anschließender Kompaktion kommen kann. Dieses Modell einer Bodenverflüssigung und Verdichtung wird auch für den Tüttensee angenommen, wo statt eines Erdbebenschocks der Impaktschock mit der Ausbreitung der Stoßwellen und der Schocknachströmung wirksam wurde. 

Gravimetrie Chiemgau-Impakt Tüttensee-Anomalie

 Abb. 16. Ergebnis der geophysikalischen Messungen (Gravimetrie) am Tüttensee: Die negative Schwereanomalie über dem eigentlichen See ist umrahmt von einem nicht ganz geschlossenen Ring positiver Anomalien. Dieser Ring wird als die Folge einer Gesteinsverdichtung um den Krater herum beim Impakt gedeutet.


Ein Impakthorizont bei Grabenstätt – Ejekta aus dem Tüttensee?

Am östlichen Ortsrand von Grabenstätt wurde durch eine Baugrube und einen zusätzlichen Schurf auf einer Fläche von über 100 m² ein exotischer Gesteinshorizont freigelegt (Abb. 17), der mit den dort bekannten und vertrauten pleistozänen und holozänen Ablagerungen nichts gemeinsam hat. Eine Ablagerung im Zusammenhang mit dem Chiemgau-Impakt, wahrscheinlich als Auswurfmassen (Ejekta) des Tüttensees, muß angenommen werden. Die Ablagerung ist komplex aufgebaut, enthält kleinstückig und scharfkantig zerbrochenes Material in Form einer Breccie, extrem korrodierte, zum Teil skelettartig ausgeformte silikatische und karbonatische Gerölle, sowie kohlig ummantelte Gerölle, in denen röntgenographisch Graphit nachgewiesen werden konnte. Während die Herkunft des Graphits noch rätselhaft ist (die Möglichkeit einer Anlieferung mit dem Projektil als kosmisches Material muß in Erwägung gezogen werden), könnte die extreme Korrosion auf eine Gesteins-Ätzung/-Lösung durch Salpetersäure-Niederschläge unmittelbar nach dem Impakt zurückgeführt werden. Die Bildung großer Mengen von Salpetersäure in der Explosionswolke großer Impakte mit der Beteiligung des Stickstoffs der Atmosphäre ist in der Impaktforschung nicht umstritten.

Gegenwärtig wird dieser Horizont mineralogisch-petrographisch und geochemisch genauer untersucht. Etwas ausführlicher wird er in dem Abschnitt Ein Impakthorizont bei Grabenstätt des Menüs beschrieben.

Abb. 17. Der Schurf bei Grabenstätt mit dem Impakthorizont. Der Impakthorizont wird als Auswurfmaterial (Ejekta) aus dem Tüttensee-Krater gedeutet.
Abb. 18. Der Schurf bei Grabenstätt mit dem Impakthorizont- Detail. Der Impakthorizont wird als Auswurfmaterial (Ejekta) aus dem Tüttensee-Krater gedeutet.